Baumweisheit
Eine alte Eiche, so nah am Abgrund, dass mir schwindlig wird.
Ich suche Schutz unter ihrem dichten Blätterdach.
Ich mach es mir auf ihren knorrig aus der Erde ragenden Wurzeln bequem und frage mich, vielen Unglückseligen(*) sie wohl in deren letzten Minuten Schatten gespendet hat.Ich befühle die Rinde, die von den letzten Sonnenstrahlen des Tages in ein warmes Licht getaucht wird, rieche den zarten Duft der weißen Blumen, die um den Baum herum wachsen und wie ich den kühlenden Schatten genießen. Ich betrachte die Risse, in denen Kafer ihre Herberge gefunden haben, und Furchen, die wie Fältchen vom Lachen und Stirnrunzeln erzählen. Ich frage den Baum, wie viele vor mir schon hier gesessen haben und auf das Elbsandsteingebirge blickend seinen Geschichten gelauscht haben. Und die ehrwürdige Eiche hat wirklich eine Menge zur erzählen: Von Sorgen und Frohmut, von Leuden und Lebensfreude.
Ich höre dem Baum einige Zeit zu, dann bedanke ich mich für seine Weisheiten und sehe, wie die blutrote Sonne hinter den von Wald bedeckten grauen Felsen versinkt.
(*)Es heißt, dass um etwa 1930, zum Tode Verurteilte vor diesem Baum von der Klippe gestoßen wurden.
Nakry - 25. Jun, 14:17